Zielsuche
II. Ultramarathon Nowe Granice
Ich stehe vor einem See und kann es nicht fassen! Nach 102 km ist der Weg zu Ende, ich habe mich verlaufen! Und das bei einer ausgezeichnet markierten Laufstrecke! Ich muss etwas übersehen haben, aber wo? Stirnlampe aus, Bildausschnitt am GPS-Gerät vergrößert *), aha, ich muss zurück! Ich laufe los. Wald, nichts als Wald! Das gibt es doch nicht! Ich muss doch irgendwo her gekommen sein! Wieder der Blick auf den Bildschirm, Sch…, ich bin noch weiter ins Nirvana gelaufen.
Gerade war das Rennen noch im Kasten, jetzt, 1 km vor dem Ziel, rast mir die Zeit davon! Ich schaue hektisch auf die Uhr: 20:14 Uhr. Ich habe noch schlappe 16 min bis zum Zielschluss. Ich höre die klaren Worte des Racedirectors beim Briefing für die englischsprachigen Teilnehmer: „20:30 Uhr ist Zielschluss, wer dann noch kommt, ist willkommen, wird aber nicht mehr gewertet!“
Das war am Abend zuvor. Volker hatte mal wieder einen interessanten Ultralauf ausgegraben, den II. Ultramaraton Zielonogorski Nowe Granice in Zielona Gora. Mit 100+ km und ca. 900 hm (meine Aufzeichnung) eine lohnende Aufgabe, zu der ich mit Blick auf kommende Abenteuer schnell überredet war. Mit zwei Dänen, zwei Ukrainern und zwei Amerikanern hatten wir zwei Deutsche (später stellte sich heraus, dass ein dritter am Start war) beim Briefing gesessen, unsere Pflichtausrüstung kontrollieren lassen und eben diese mahnenden Worte gehört. Kein Problem, dachte ich, 13:30 Std. schaffe ich allemal, bleibt eine Stunde Reserve.
Als es um 6 Uhr des 27.02.2016 bei Schnee und klirrender Kälte im Fackelschein recht eindrucksvoll auf die 103-km-Runde ging, habe ich nicht geahnt, was da auf mich zukommt! Dabei hätte die Tatsache, dass dieses Rennen vier Qualifikationspunkte für den UTMB bringt, Warnung genug sein sollen! Es ging, teilweise recht ruppig, auf schmalen Pfaden und breiten Waldwegen bergauf und bergab durch eine traumhafte in Raureif gehüllte Landschaft mit lila Sonnenaufgang – wahnsinnig schön! Beim Traben über gefrorenen Schlamm und Sand dachte ich: bloß gut, dass das gefroren ist, wenn das getaut wäre … halloballo! Was mir gedanklich in diesem Moment verborgen geblieben war: die in Aussicht gestellten Tagestemperaturen über dem Gefrierpunkt.
Bei ca. km 25 – 26 dann der erste Hinweis auf das Kommende: es ging durch eine Art Sumpf oder Lagunenlandschaft, was weiß ich, wie man das nennt – jedenfalls gab es mehr Wasser als Weg. Trotz aller Vorsicht brach ich durch eine gefrorene Graskaupe – prima, beide Schuhe voller Wasser! Egal, weiter.
Und weiter hieß: Sonne! Zuerst taute die oberste Schicht auf den Wegen. Große Streckenabschnitte wurden trotz Trailschuhen zu Rutschbahnen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Denn irgendwann war alles getaut, jetzt ging es durch teils knöcheltiefen Modder. Jeder halbwegs laufbare Weg war mehr als willkommen. Davon gab es zum Glück genug, obwohl der Asphaltanteil dieses Ultralaufes geschätzt bei höchstens 5 km liegt.
Bei km 47, hier wartete erstmals unser Betreuerteam Almuth und Kerstin auf uns, war ich schon ziemlich breit, aber noch voll im Plan. Bei km 62 sah es ähnlich aus – nicht mal mehr Marathon dachte ich. Es sind schon komische Gedanken, die einen da durch den Kopf schießen.
Als ich schließlich den Verpflegungspunkt bei km 81 verlassen habe – übrigens wie alle anderen mit toller Stimmung und sehr sehr guter Versorgung – war klar: 3:30 Stunden für nur noch 22 km – das Ding ist drin! Zwar wurde ich später daran erinnert, dass im Dunkeln im Schein der Stirnlampe nur noch mäßiges Vorankommen ist und Zeit verloren geht, aber an km 98 war es immer noch mehr als eine Stunde bis zum Cut off.
Mit einem gefühlt besonders breitem Grinsen habe ich diesen letzten Verpflegungspunkt verlassen. Auch Volker wird zu dieser Zeit gegrinst haben, er war längst im Ziel, 12:43 Stunden hatte er gebraucht.
Mein Grinsen ist mir am See allerdings vergangen!
Als ich merke, dass ich noch weiter in die falsche Richtung gelaufen bin, renne ich zurück zum See. Man, hier war es doch früh irgendwo langgegangen. Ich fingere das Handy raus, um Almuth Bescheid zu geben, die schon nervös im Ziel wartet – vielleicht kann sie ja Gnade beim Kampfgericht bewirken, hoffe ich in meiner scheinbar ausweglosen Situation. Ich gebe zweimal die falsche PIN ein, eine dritte Eingabe wage ich nicht! Es ist Volkers Handy, meins hatte am Abend zuvor den Geist aufgegeben. Volker, der alte Fuchs, hatte ein Reservehandy mit. Woran man nicht so denken muss!
Also Handy wieder weggesteckt, ich renne wie angestochen rechts um den See – Stimmen! Gott sei Dank, denke ich, Einweiser.
Es waren polnische Jugendliche, es roch stark nach Fusel. Ich halte mir die Stirnlampe zu, um sie nicht zu blenden: „Sorry, can you help me? I can’t find the finsihline“. Tatsächlich wissen sie Bescheid, schreien mir noch hinterher, als ich fast schon wieder falsch abgebogen wäre. Dann bekanntes Gebiet - endlich! Wieder der Blick auf die Uhr: 20:24 Uhr, ich bin noch mindestens 1 km vom Ziel entfernt. Jetzt sprinte ich die Straße entlang. Wo bleibt dieses sch…. Ziel!!!!
Und da war es!
Über das, was jetzt kommt, kann ich heute lachen, in diesem Moment aber stand mir der A… voller Tränen: Ich stehe oberhalb des Zieles vor einem Zaun! Wo ist diese blöde Tür, aus der ich früh rausgelaufen war! Alles ist zu! Die Leute im Ziel sehen mich, feuern mich an, geben vermutlich Hinweise, toben – auf Polnisch. Ich verstehe kein Wort! Dann höre ich Almuths Stimme: nach rechts, nach rechts, renne einfach da runter (oder so ähnlich).
Ich hätte alles verwettet, dass ich nie aus dieser Richtung gekommen bin, folge dem aber. Und tatsächlich kann ich nur wenige Meter weiter rechts auf das Ziel zulaufen – 14:29 Stunden stehen auf der riesigen Zieluhr! Eine Minute vor dem Cut off bin ich als insgesamt Letzter im Ziel. Hm, noch eine Minute, da hätte ich mich ja gar nicht so beeilen müssen! Jaja, schwarzer Humor ist der Beste, wissen wir ja!
Ich weiß nicht, ob ich je in meinem Leben so voller Adrenalin war, jedenfalls ist nach mehr als 103 km der letzte (Zusatz-)Kilometer unter 5 min gefühlt ein lockeres Spielchen gewesen.
Über den Muskelkater danach reden wir nicht! Der kann ja schließlich auch vom Modder sein – als eine der weiteren Möglichkeiten ;)
Danke Volker, für die Idee zu diesem Lauf, danke Almuth und Kerstin für Betreuung und den vermutlich rettenden Beistand beim Zieleinlauf und danke an Malik Abdullah aus Arizona für die nette Unterhaltung in den ersten fünf Stunden. Falls Du das liest, melde dich bitte!
Fazit: Ein wirklich lohnenswerter fast vor der Haustür gelegener Ultra, gut organisiert und mit einer überraschenden abwechslungsreichen Landschaft rund um Zielona Gora. Empfehlenswert!
Nachsatz:
Das etwas dramatische Ende meines Laufes ist übrigens nichts anderes, als ein belastungsbedingter Aussetzer des Hirns. Wäre ich nicht in Hektik verfallen, hätte ich erkennen können, dass der Trail links am See vorbei führt. Mit nur wenig Zeitverlust wäre der Fehler zu korrigieren gewesen. Und die „Zaunnummer“ vor dem Ziel ist ein Folgefehler: natürlich waren wir früh genau so gestartet, die „kleine Tür“, die ich vor Augen hatte, war die, durch die wir den Startbereich betreten hatten. Einmal kurz nachgedacht und das Problem wäre gelöst gewesen. Aber mach das mal nach gut 104 km und unter Vollstress ;)))))
Zu Volkers Bericht Zum Bericht über den III. Lauf 2017
Meine Aufzeichnung der Strecke mit Garmin Oregon
Wer sich für meinen Verhauer interessiert: einfach mal kurz vorm Ziel vergrößern ;)
Distanz: Kilometer Höhe (min): Meter Höhe (max): Meter
*) Für GPS-Insider: ich habe den Track zwar aufgezeichnet, aber nicht auf der Karte anzeigen lassen, da ja dort der Track des Veranstalters war. Somit konnte ich nicht den eigenen Weg über „go back“ zurück finden.
Fotos dieses Beitrages stammen auch von Almuth Dictus, Kerstin Roßberg, Volker Roßberg, Alicja Starowar, SPORTWEZARY.pl, und Jaroslav Skotnicki